Rede von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zum Tag der Deutschen Einheit
03.10.2014, 10:30 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)
Es gilt das gesprochene Wort!
Rede anlässlich der Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit im Sächsischen Landtag am 3. Oktober 2014
Vor wenigen Tagen war ich in Prag. Am 30. September ― um genau zu sein. Zusammen mit unseren tschechischen Partnern und Freunden haben wir der Ereignisse gedacht, die an diesem Tag vor 25 Jahren Geschichte gemacht haben.
Der 30. September ist nicht irgendein Datum, sondern die Ereignisse dieses Tages waren einer der ganz großen Impulse des Herbstes 1989, und sie hatten eine Art Katalysator-Funktion: Sie brachten Entlastung in einer sehr angespannten Situation und zugleich war es ein Schritt nach vorn, der nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Ich denke: Wir alle haben die Bilder vor Augen, wie der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft in Prag den berühmtesten Halbsatz der Geschichte sagte: „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise…“ Weiter kam er nicht. Der Jubel der Botschaftsflüchtlinge war ohrenbetäubend. Die Erleichterung war auf allen Seiten groß und spürbar wie ein Seufzer der Geschichte.
Genschers Satz ging ja aber noch weiter. Die „Fortsetzung“ ist auf einer Plakette zu lesen, die auf dem Balkon angebracht ist. Und obgleich es nur drei Worte sind, die dort stehen, sind sie für mich so etwas wie eine Überschrift über den Tag der Deutschen Einheit, der in diesem Jahr ganz im Zeichen von 25 Jahren Friedlicher Revolution steht. Die drei Worte, die damals untergingen, lauten: „…möglich geworden ist.“
Damit sind wir bei dem, was den 3. Oktober ausmacht: Möglich geworden ist durch die Friedliche Revolution das Ende der DDR, der Fall der Mauer und die Deutsche Einheit. All das schien wenige Monate zuvor noch völlig unmöglich zu sein.
Heute geht es mir um einen Blick zurück und einen Blick nach vorne. Dabei sind mir zwei Punkte wichtig. Der eine lautet: Wir dürfen die DDR nicht verharmlosen. Der andere: Wir müssen die Werte der Friedlichen Revolution leben.
Meine Damen und Herren! Beim Blick zurück geht es mir um die Frage: „Warum ist es wichtig, sich an die Friedliche Revolution zu erinnern?“ Es ist wichtig, weil die Friedliche Revolution ein Auflehnen gegen den Unrechtsstaat war. Die Sehnsüchte, Hoffnungen und Forderungen der Demonstranten hatten ihren Ursprung im genauen Gegenteil dessen, was sie jeden Tag erlebten. Und je weiter wir davon weg sind desto wichtiger wird das Erinnern.
Kinder und Jugendliche kennen die DDR nur aus dem Geschichtsbuch. Das muss kein Manko sein, im Gegenteil: Es kann eine große Chance sein. Aber dazu brauchen wir als Gegenstück die „ungeschminkte“ DDR.
Für mich bedeutet das: Wir dürfen nicht dahin kommen, die Erinnerung an die DDR in kleine Anekdoten, in immer kleinere Ausschnitte, in immer kleinere Päckchen zu verpacken, auf denen „nicht so schlimm“ steht. Am Ende bleiben dann nur noch schöne Heile-Welt-Ausschnitte übrig. Das ist bequem und das tut nicht weh, aber es verharmlost.
Der Blick zurück darf aber nicht verniedlichen. Und deshalb braucht es große Ausschnitte, oder um im Bild zu bleiben: große Pakete DDR-Geschichte auf denen steht - „so war es und nicht anders“.
Wer zurückschaut, der ordnet ein. Und genau um dieses Einordnen geht es mir. Es kommt also auf das Gesamtbild an. Zu diesem Gesamtbild gehören deshalb die Schicksale der Heimkinder, der politischen Gefangenen und der Bausoldaten, der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze, die Maueropfer und die Stasi.
In einem solchen Bild ist kein Platz für eine romantische Verklärung der SED-Diktatur. Die Menschen hatten es satt, in einer Diktatur zu leben, bevormundet zu werden und unfrei zu sein. Und dieses Erinnern ist kein Selbstzweck. Es hat mit uns zu tun: Es ist gut für uns, weil wir uns immer wieder bewusst werden, für welche Werte die Menschen sich in den Kirchen versammelten, auf die Straße gingen und gekämpft haben.
Und damit - meine Damen und Herren - bin ich bei meinem zweiten Punkt: dem Blick nach vorn.
Bei meinem Blick nach vorn geht es mir um die Frage: „Was sagt uns die Friedliche Revolution heute?“ Sie sagt uns immer wieder, worum es damals ging. Sie mahnt uns, die damals errungene Freiheit ernst zu nehmen. Und ernst nehmen heißt, sich für ihre Werte einsetzen: Für die Freiheit des Einzelnen, für die Achtung des Nächsten, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Weil es keine grenzenlose Freiheit gibt, bedeutet Freiheit immer auch Verantwortung.
Diese Verantwortung verlangt von uns immer wieder eine klare Haltung: gegen Engstirnigkeit in den Köpfen gegen religiöse Intoleranz, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Antisemitismus, gegen Populismus und Extremismus.
Mit anderen Worten: Wir müssen die Werte der Friedlichen Revolution leben, verteidigen und weitergeben. Denn Demokratie muss von uns allen immer wieder neu gelebt werden! Das sind wir dem Mut der Revolutionäre von damals schuldig: Sie haben die Freiheit errungen. Sie haben mit ihrem Verhalten das schier Unmögliche möglich gemacht, nämlich dass eine Revolution friedlich bleiben kann. Und sie haben damit ermöglicht, dass wir „DDR-Bürger“ als freie Menschen in die Wiedervereinigung gehen konnten. Diese Reihenfolge ist etwas Besonderes: erst frei und dann vereinigt.
Ich meine: Aus beiden Blickwinkeln, dem Blick zurück und dem Blick nach vorn, erwächst uns eine Verpflichtung - die zum Handeln. Das ist unbequem, und dazu braucht es immer wieder einen Anstoß. Ich denke, dass uns allen in Deutschland der Herbst 1989 immer wieder Verpflichtung ist.
Eine große deutsche Tageszeitung sucht im Vorfeld des diesjährigen Jubiläums Paare, die am 9. November 1989 geheiratet haben. Diese Paare können also in diesem Jahr Silberhochzeit feiern. Ich fand das aber aus einem anderen Grund spannend: Ich habe mir vorgestellt, wie das damals für diese jungen Paare wohl gewesen sein muss. Wer nicht ganz spontan geheiratet hat, für den standen die Hochzeitsvorbereitungen unter ganz besonderen Vorzeichen. Da ging es nicht nur um Fragen wie „Wer sitzt wo?“ oder „Was gibt es zu essen?“
Da beginnt Ungarn am 2. Mai 1989 mit dem Abbau des Grenzzauns zu Österreich. Da durchschneiden am 27. Juni der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock den Stacheldraht, und der Eiserne Vorhang wird löchrig. Da ist am 19. August die Grenze beim Paneuropäischen Picknick wieder offen. Und am 30. September ist klar, dass die DDR-Flüchtlinge aus der Botschaft der Bundesrepublik in Prag ausreisen.
Was muss diesen Paaren durch den Kopf gegangen sein! Und es ging weiter…
Am 7. Oktober gibt es die erste große Demonstration in Plauen. Am 9. Oktober folgt Leipzig. Das Ende der DDR ist nicht mehr aufzuhalten. Und selbst am Tag der Hochzeit konnte niemand ahnen, dass die Mauer an diesem Abend nach 28 Jahren fällt. Diese Paare sind zur Trauung gefahren und fanden sich kurz danach in einer anderen Welt wieder.
Sie waren nicht nur verheiratet - das Land, in dem sie lebten, ihr Land, hatte sich völlig verändert. Und das Wort „Hochzeitsreise“ hatte eine neue Qualität.
Meine Damen und Herren! Ich finde: Auch wenn diese Geschichte die ganze Ambivalenz des Jahres 1989 deutlich macht, so ist es dennoch eine Geschichte, die Mut macht. Sie kann Mut machen, weil das „möglich werden“, der Neubeginn, im Vordergrund steht.
Neuanfänge gab es viele, vom Sommer 1989 bis zur Einheit am 3. Oktober 1990. Und das, was die Demonstranten forderten, waren radikale Neuanfänge: Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, Reisefreiheit, Zulassung der Opposition und neuer Parteien, Ende des SED-Monopols.
In atemberaubender Geschwindigkeit wurde aus „Wir sind das Volk“ die Forderung nach einem noch viel weiter gehenden Neuanfang: „Wir sind ein Volk“!
Auch 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution braucht es immer wieder „Neuanfänge“ im Handeln, damit die Geschichte der DDR nicht verharmlost und die Werte des Herbstes 1989
gelebt, verteidigt und weitergegeben werden.
Sehr geehrte Frau Klier! Genau das machen Sie als Bürgerrechtlerin, als Autorin und als Filmemacherin: Sie leben vor, indem Sie aus Ihrer eigenen Biographie schöpfen. Sie verteidigen, indem Sie andere Biographien zum Sprechen bringen. Und sie geben weiter, indem Sie Ihre Arbeiten an Schulen vorstellen. Wer Ihre Bücher und Essays liest, wer Ihre Filme sieht und wer Sie hört, der bekommt ein „ungeschminktes“ Bild.
Ich bin deshalb sehr gespannt, was Sie uns heute, hier im Sächsischen Landtag am Tag der Deutschen Einheit sagen werden. Vielen Dank.