Expertenkommission legt Bericht vor

20.02.2013, 11:17 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)

Zusammenfassung des Berichts über die Arbeitsabläufe im Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen

Die Expertenkommission zur Evaluierung des Sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz wurde von Innenminister Markus Ulbig am 1.8.2012 einberufen. Der Bericht über die Evaluierung der Arbeitsabläufe und –strukturen des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen unter besonderer Betrachtung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund liegt jetzt vor.
Der Kommission gehören die ehemalige Generalbundesanwältin Prof. Monika Harms, der frühere Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden Württemberg Dr. Helmut Rannacher und der frühere Präsident des Sächsischen Rechnungshofes Franz Josef Heigl an.

Innenminister Markus Ulbig: „Wir wollen einen Philosophiewechsel beim Verfassungsschutz. Unser Verfassungsschutz soll modern und serviceorientiert sein. Der Gesamtkomplex NSU hat uns allen gezeigt, dass es Verbesserungsbedarf im Verfassungsschutz in Deutschland gibt. Sachsen ist jetzt das erste Land, in dem von einer unabhängigen Kommission konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt werden. Der heute vorgelegte Bericht der Expertenkommission ist ein sehr solides, detail- und kenntnisreiches Werk. Dieser Bericht bildet eine sehr gute Arbeitsgrundlage für die neue zukunftsfähige Struktur des Verfassungsschutzes in Sachsen.“

Zusammenfassung

  • Die Expertenkommission hat zahlreiche Gespräche mit Mitarbeitern des LfV aus allen Bereichen geführt, Akten des LfV ausgewertet und Gespräche mit Vertretern anderer Behörden geführt.
  • Erstes Ziel war die Aufklärung des Sachverhalts um die am 10. Juli 2012 im LfV aufgefundenen Unterlagen, die zum Rücktritt des vorherigen Präsidenten Herrn Boos geführt hatte. Trotz intensiver Nachforschungen und zahlreicher Gespräche konnte der Sachverhalt nach 12 Jahren nicht mehr vollständig aufgeklärt werden.
  • Die Expertenkommission hat festgestellt, dass die aufgefundenen Unterlagen zwar einen sachlichen Bezug zum NSU haben und die der PKK und den Untersuchungsausschüssen übergebenen Unterlagen somit unvollständig gewesen sind. Inhaltlich ergeben sich aus den Unterlagen jedoch keine neuen Erkenntnisse. Insbesondere enthielten sie keine Hinweise auf den Aufenthaltsort der Gesuchten oder auf die ihnen nach ihrer Flucht zur Last gelegten Verbrechen.
  • Zum (zeitweisen) Verschwinden der Unterlagen haben Mängel bei der Registrierung, die fehlende Übergabe der Unterlagen bei Bearbeiterwechsel sowie organisatorische Versäumnisse bei der Zusammenstellung der Unterlagen für den Generalbundesanwalt und die parlamentarischen Gremien beigetragen.

Allgemeine Untersuchung

  • Die Haushaltsausstattung und die Stellenausstattung des LfV entsprechen dem Durchschnitt vergleichbarer Bundesländer und sind im Ländervergleich angemessen. Allerdings erschwert die Stellenstruktur des LfV mit ihrem unterdurchschnittlichen Anteil insbesondere an gehobenem, aber auch an höherem Dienst eine Verbesserung der Analysefähigkeit im LfV. Die Expertenkommission schlägt vor, unter Beachtung der Stellenabbauziele, denen das LfV unterworfen ist, insbesondere den Anteil an Stellen des gehobenen Dienstes zu erhöhen. Bei der Gewinnung von Mitarbeitern des höheren Dienstes sollte der Einsatz von Geisteswissenschaftlern, insbesondere von Historikern und Politikwissenschaftlern, verstärkt in den Blick genommen werden, um die Analysefähigkeit der Behörde phänomenbereichsübergreifend zu erhöhen. Darüberhinaus sollten regelmäßige Rotationen und Hospitationen bei anderen Verfassungsschutzbehörden, insbesondere dem BfV, erfolgen.
  • Eine kontinuierliche Fortbildung ist gerade beim Verfassungsschutz von besonderer Bedeutung. Die verstärkten Fortbildungsbemühungen nach der Veröffentlichung des Schlussberichts der Beyer-Irrgang-Kommission im Oktober 2007 waren nicht nachhaltig. Erhebliche Defizite bestehen sowohl bei den Fortbildungsangeboten selbst als auch bei der Nachfrage nach diesen Angeboten.
  • Die Expertenkommission hat sich mit dem System der V-Mann-Werbung und –Führung auseinandergesetzt. Es gibt zahlreiche Dienstvorschriften, die dieses System intern regeln. Die Expertenkommission konnte nicht erkennen, dass die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit nachrichtendienstlichen Personen in einzelnen Beobachtungsobjekten regelmäßig kritisch hinterfragt wird. Eine kontinuierliche „Quellenkritik“ ist aber geboten. Die Experten empfehlen, im LfV im Bereich der Nachrichtenbeschaffung ein kennzahlengestütztes Führungsunterstützungssystem einzuführen, das eine umfassende fachliche und wirtschaftliche Bewertung des Einsatzes von nachrichtendienstlichen Personen erlaubt. Die Analyse muss das jeweilige Risikopotential einer nachrichtendienstlichen Person einbeziehen.
  • Bei der Untersuchung der Arbeitsabläufe im LfV wurden keine wesentlichen Mängel entdeckt. Allerdings sieht die Expertenkommission Optimierungsmöglichkeiten beispielsweise bei der Aktenführung, bei der Aktenverwaltung und bei der Verfügungstechnik. Im LfV muss ein regelmäßiges internes Berichtswesen installiert werden. Standardisierte Vermerke müssen die Erkenntnisse des LfV im Berichtszeitraum zusammenfassen und Bewertungen auch im Hinblick auf das weitere Vorgehen enthalten.
  • Die Expertenkommission ist im wesentlichen zu denselben Ergebnissen gekommen wie der Sächsische Datenschutzbeauftragte in seinem Bericht zur Vernichtung von Akten im Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen in den Jahren 2011 und 2012. Dabei hat er festgestellt, dass es im LfV Sachsen keine Auffälligkeiten bei der Anzahl der Vernichtung der Akten vor und nach der Entdeckung des NSU am 4. November 2011 gab. Auch hat er festgestellt, dass das LfV Aktenteile vernichten durfte. Er hat aber Kritik bei der Registrierung von Einzelstücken geäußert.
  • Die Expertenkommission empfiehlt, die Einführung eines elektronischen Vorgangsbearbeitungssystems im LfV energisch voranzutreiben.
  • Die Kontrolle über den Verfassungsschutz ist überaus vielfältig, er arbeitet keineswegs „im rechtsfreien Raum“, wie ihm gelegentlich unterstellt wird. Es gibt bereits verschiedene Arten von Aufsichtsgremien und Kontrollinstrumenten über das LfV, z. B. PKK, G-10-Kommission, Innenausschuss.
  • Seit 2007 wurde die Fachaufsicht im SMI über das LfV bereits verbessert. Die Expertenkommission empfiehlt dem SMI, zeitnah Hospitationen und Rotationen zwischen LfV und Fachaufsichtsreferat anzustreben.
  • Zur Unterstützung der parlamentarischen Kontrolle wird empfohlen, beim Sächsischen Landtag einen sog. „Verfassungsschutzbeauftragten“ zu berufen. Dessen Aufgabe wäre die umfassende Kontrolle des Verfassungsschutzes. Im Unterschied zu den Befugnissen der PKK wäre der Beauftragte nicht auf Vorgänge von „besonderer Bedeutung“ beschränkt, sondern dürfte sich auch ohne konkreten Anlass, z. B. im Rahmen einer Stichprobe, einzelne Vorgänge vorlegen lassen. Er könnte auch laufende Vorgänge der Arbeit des Verfassungsschutzes kontrollieren, wäre also nicht auf eine ex-post-Kontrolle beschränkt. Neben der eigeninitiativen Kontrolle sollten dem Beauftragten aber auch durch den Sächsischen Landtag, die PKK, die G 10-Kommission oder einen Untersuchungsausschuss einzelne Kontrollaufträge erteilt werden können. Den genannten Gremien stünde mit dem Beauftragten dauerhaft ein Experte mit umfassenden nachrichtendienstlichen Kenntnissen zur Verfügung.
  • Die Expertenkommission erteilt einer Zentralisierung des Verfassungsschutzes oder einer Zusammenlegung mit anderen Landesämtern eine Absage. Sie empfiehlt stattdessen eine Umstrukturierung des LfV Sachsen, um eine zukunftsfähige Aufstellung und weitere Optimierung der Arbeit des LfV zu erreichen. Dazu hat die Kommission Vorschläge unterbreitet.
  • Die Expertenkommission fordert, dass sich der „Verfassungsschutz der Zukunft“ stärker als Dienstleister versteht. Neben der herkömmlichen Öffentlichkeitsarbeit, die das LfV Sachsen bereits bisher in engagierter Weise geleistet hat, muss ein „Verfassungsschutz der Zukunft“ sich noch sehr viel stärker der Präventionsarbeit vor Ort stellen. Es bedarf bei der Verdichtung von Entwicklungen zum Extremismus – insbesondere wenn sie mit Gewaltdelikten einhergehen – der gezielten fachlichen Beratung. Dies gilt in Sachsen im Bereich der rechtsextremistischen Musikszene, bei Veranstaltungen allgemein und auch im Hinblick auf die wiederholte Anmietung von Konzertsälen ebenso wie bei Veranstaltungen zu bestimmten Gedenktagen. Hier frühzeitig, weit im Vorfeld wiederkehrender Ereignisse die Gefahren zu thematisieren und entsprechende Konzepte dagegen zu entwickeln, wird vermehrt Aufgabe einer Verfassungsschutzbehörde sein. Ein Krisenunterstützungsteam im Verfassungsschutz, das mit besonders geschulten Mitarbeitern kurzfristig bei akuten Problemen in den Kommunen vor Ort helfen könnte, wäre eine weitere Möglichkeit.
  • Um Schüler auf Werbestrategien rechtsextremistischer Gruppierungen vorzubereiten, zu sensibilisieren und zu „immunisieren“, wird empfohlen, ein Projekt zur Stärkung der Zivilcourage gegen Extremismus ins Leben zu rufen.
  • Gleichzeitig macht die Expertenkommission deutlich, dass ein „Verfassungsschutz der Zukunft“ nicht zum Nulltarif zu haben ist.
  • Die bereits begonnene Errichtung gemeinsamer Dateien sowie die Zusammenarbeit der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden auf Bundesebene in gemeinsamen Zentren und die in Sachsen bereits umgesetzte Institutionalisierung des Informationsaustausches zwischen dem LfV und der Polizei sind geeignet, gegenseitige Vorbehalte zwischen Polizei und Verfassungsschutz zu überwinden und Rechtssicherheit zu schaffen.
  • Insbesondere die neu geschaffenen Dateien „Anti-Terror-Datei“ (ATD) und die Rechtsextremismusdatei (RED) haben für die Ermittlungs- und Verfassungsschutzbehörden eine deutliche Verbesserung der Erkenntnislage gebracht, den Informationsfluss ermöglicht und damit die Chancen erhöht, im Zusammenwirken Gefahren für die innere Sicherheit besser und schneller zu erkennen und darauf abgestimmt zu reagieren.
  • Das „Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus“ (GAR), von dessen Arbeitsweise sich die Expertenkommission vor Ort einen Eindruck verschaffen konnte, orientiert sich an der bewährten Struktur des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ), das 2004 in Berlin eingerichtet wurde. Dieses neue Gremium ermöglicht einen effektiven Informationsaustausch zwischen allen Ländern und den zuständigen Bundesbehörden. Dem LfV wird empfohlen, qualifizierte und motivierte Fachbeamte in die Gremien zu entsenden.
  • Die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch im Verfassungsschutzverbund haben sich bereits verbessert. Allerdings sind die Kooperation und der Erfahrungsaustausch mit den Nachbarländern noch ausbaufähig. Die bisher sporadisch stattfindenden Erfahrungsaustausche sollten über den Bereich der Auswertung hinaus intensiviert werden.
  • Zwischen Polizei und Verfassungsschutz sollte ein vermehrter Personalaustausch in Form von gegenseitigen Hospitationen und Rotationen angestrebt werden.
  • Die Expertenkommission regt an, die Umsetzung ihrer Empfehlungen in Form eines Projekts zu steuern.

Lebensläufe

Monika Harms war bis zu Ihrer Pensionierung im Jahr 2011 Generalbundesanwältin. In ihre Amtszeit fielen die Anklagen zur Sauerlandgruppe, zu den Kofferbombern und das Attentat am Frankfurter Flughafen. Von 1974 bis 1980 arbeitete sie in Hamburg als Staatsanwältin für Wirtschaftsstrafsachen, bis 1983 als Richterin am Landgericht, anschließend am Finanzgericht der Hansestadt. 1987 wurde sie Richterin am Bundesgerichtshof. Dort übernahm sie 1999 den Vorsitz des 5. Strafsenats mit Sitz in Leipzig. Am 1. Juni 2006 wurde sie Generalbundesanwältin. Frau Professor Harms hat einen Lehrauftrag an der Universität Halle-Wittenberg und ist im Ehrenamt als Vorsitzende des Hochschulrates der Universität Leipzig tätig. Aktuell arbeitet Frau Professor Harms in der Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetze seit 2001.

Helmut Rannacher wurde im Juni 1940 im Erzgebirge geboren und floh 1957 in die Bundesrepublik. Er studierte an der Universität Tübingen in den Fächern: Wissenschaftliche Politik, Geschichte, Russisch.
Von 1971 an war Helmut Rannacher für den Verfassungsschutz in Baden Württemberg tätig. Er leitete u.a. die Abteilung Auswertung Extremismus/Terrorismus. Von 1995 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005 war Helmut Rannacher Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden Württemberg.
Er ist ehreamtlicher Beiratsvorsitzender des Projekts der Baden-Württemberg Stiftung „Mit Zivilcourage gegen Extremismus“.

Franz Josef Heigl wurde 1943 in Oberbayern geboren. Er studierte zunächst klassische Philologie und Geschichte, anschließend Rechtswissenschaften. Nach verschiedenen Tätigkeiten als bayrischer Staatsbeamter wurde er 1980 Richter am Sozialgericht. 1995 erfolgte die Ernennung zum Vorsitzenden Richter am Sächsischen Landessozialgericht in Chemnitz. Von 1996 bis 2003 war Franz Josef Heigl Präsident des Landessozialgerichts in Leipzig. Von 2003 bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren war er Präsident des Sächsischen Rechnungshofes.


Kontakt

Sächsisches Staatsministerium des Innern

Ansprechpartner Martin Strunden
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