Regierungserklärung von Ministerpräsident Prof. Dr. Kurt Biedenkopf zu den Ereignissen in Sebnitz

15.12.2000, 14:30 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell)

Am 13. Juni 1997, einem Tag mit sonnig-warmem Badewetter, an dem sich zeitweise ca. 100 Badende – mehrheitlich Kinder und Jugendliche – in dem Becken befanden ... besuchten ca. 300 Badegäste das Schwimmbad, in dem alle Anlagen, also Innen- und Außenbecken sowie die Sauna, in Betrieb waren. (...)

Joseph Abdulla begab sich gemeinsam mit seiner (...) Schwester Diana Abdulla sowie mit zwei weiteren Freunden an jenem Tag gegen 14.23 Uhr in das Dr.-Petzold-Bad. (...)

Gemeinsam spielten die Kinder mit Wasserspritzpistolen in dem flachen Bereich des Beckens. Nach einer Weile entfernte sich Joseph Abdulla von den übrigen Kindern und verließ das Becken, um von der Liegewiese seine dort abgelegte Taucherbrille herbeizuholen. Nachdem er zurückgekehrt war, setzte Diana Abdulla im flachen Wasser ihrem Bruder ihre eigene Taucherbrille auf und die Kinder begaben sich zu einem Zeitpunkt, zu dem der "Strudel" nicht eingeschaltet war, zu der runden Badeinsel im Becken. Gegen 14.50 Uhr bewegte sich Joseph Abdulla, der seine Taucherbrille trug, mit einem aufgeblasenen Schwimmreifen, an dem er sich festhielt, gemeinsam mit einem anderen Kind in Richtung zu dem flachen Bereich des Beckens. Dies war der letzte Zeitpunkt, zu dem Diana Abdulla ihren Bruder lebend gesehen hat. (...)

Das weitere Geschehen ist unklar. Fest steht lediglich, dass der leblose Joseph Abdulla einige Minuten später von Badegästen aus dem tiefen Bereich des Beckens gezogen wurde, auf dessen Grund er lag. Seine Taucherbrille trug er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, der Schwimmreifen war verschwunden. (...)

Eine als Badegast anwesende Frau versuchte gemeinsam mit Diana Abdulla, den leblosen Joseph Abdulla zu reanimieren. (...)

Der Rettungsdienst traf mehr als eine halbe Stunde nach dem Unglück am Unglücksort ein (...)

Die ca. 60 Minuten andauernden Reanimierungsversuche des Notarztes (...) blieben erfolglos, so dass dieser am Nachmittag des 13. Juni 1997 gegen 16.30 Uhr nur noch den Tod des Joseph Abdulla feststellen konnte. (...)

Als Folge des Todes ihres Sohnes, der durch die Nachlässigkeit des Aufsichtspersonals des Schwimmbades verursacht wurde, erlitten die Eltern einen schweren Schock.

Was ich Ihnen soeben vorgetragen habe, ist eine Schilderung der Ereignisse um den Tod des kleinen Jungen Joseph Abdulla in Sebnitz am 13. Juni 1997. Diese Schilderung eines "Unglücks" im Schwimmbad ist nicht meine persönliche Version und auch nicht die Version der Staatsanwaltschaft. Es ist der Sachverhalt – fast durchgängig wörtlich –, der von den Anwälten der Eltern des kleinen Joseph in ihrer Zivilklage gegen die Stadt Sebnitz vorgetragen wurde, die sie am 13. April 1999 beim Landgericht Dresden einreichten.

Was ist damals im Schwimmbad von Sebnitz wirklich geschehen? War es ein "Unglück", wie es 1999 die Anwälte vortrugen? Oder hat sich alles ganz anders abgespielt?

Noch gibt es darauf keine abschließende Antwort der ermittelnden Staatsanwaltschaft.

Was wir wissen, ist folgendes:

Nach dem Vorfall im Schwimmbad von Sebnitz am 13. Juni 1997 leitete die Staatsanwaltschaft Dresden, Zweigstelle Pirna, zunächst ein Todesermittlungsverfahren ein. Am 17. Juni 1997 wurde im Institut für Rechtsmedizin in der Technischen Universität Dresden eine Obduktion vorgenommen.Ferner wurden zahlreiche Zeugen - einige davon wiederholt - angehört sowie die erforderlichen Feststellungen zu den Örtlichkeiten des Schwimmbads, den Sicherheitsbestimmungen und zu den für deren Einhaltung Verantwortlichen getroffen.

Die vernommenen Zeugen konnten sich im Wesentlichen zum Geschehen vor dem Tod des Kindes, zu seiner Auffindung und Bergung äußern, zu Berichten über angebliche unmittelbare Geschehenszeugen - die nicht verifiziert werden konnten - sowie zu Berichten über selbstbelastende Äußerungen zweier Zeugen nach der kirchlichen Beisetzung. .

Hinweise auf erwachsene oder strafmündige Täter hatten sich nicht ergeben. Aufgrund der Aussagen zweier Zeugen, nach denen das Kind vor dem Ertrinken selbst im Wasser tauchte, betrachtete es die Staatsanwaltschaft als am wahrscheinlichsten, dass das Kind dabei ertrank. Als nicht ausgeschlossen erachtete die Staatsanwaltschaft einen von einem anderen Zeugen geschilderten Geschehensablauf, der ein "Hascherspiel" und ein gegenseitiges Tauchen zwischen dem Kind und größeren Jungen beobachtet haben wollte. Hieraus und aus Hinweisen der Mutter des Kindes und ihres Anwalts, die auf Rangeleien oder ein "Tauchen" oder "Tunken" durch strafunmündige Kinder hinwiesen, ergaben sich jedoch keine Anhaltspunkte für strafbares Handeln.

Bei der Anhörung der Schwester des kleinen Joseph am 11. August 1997 wiesen die dabei anwesenden Eltern auf einen rechtsextremen Hintergrund des angeblichen"Mordkomplotts" hin. Tatsachen dazu teilten sie auch auf Vorhalt nicht mit. Auch die Schilderung der Tochter, die von der Mutter niedergeschrieben und bei der Anhörung übergeben worden war, enthielt keine Hinweise auf Gewaltanwendung oder einen rechtsextremen Hintergrund. Eine vertiefte Anhörung der Tochter, auch in Anwesenheit der Eltern, ließ die Mutter nicht zu.

Am 26. August 1997 erhielt das Sächsische Innenministerium von dritter Seite einen Hinweis, dass die Mutter des Jungen den "Verdacht auf eine vorsätzliche Tötung aus fremdenfeindlichen und wirtschaftlichen Gründen" geäußert habe.

Tatsachenangaben, aus denen sich die von der Mutter behaupteten fremdenfeindlichen und wirtschaftlichen Gründe ergäben, wurden in dem Hinweis nicht vorgetragen. Die sonstigen Ermittlungen hatten keine Hinweise auf einen ausländerfeindlichen, rechtsextremen oder wirtschaftlichen Hintergrund ergeben. Bei ihrer Vernehmung am 19. Dezember 1997 hatte die Mutter ihre Vermutungen über einen rechtsradikalen Hintergrund nicht wiederholt, schon gar nicht substantiiert.

Mit Verfügung vom 7. Mai 1998 stellte die Staatsanwaltschaft Dresden, Zweigstelle Pirna, das Ermittlungsverfahren wegen des Todes des Kindes mangels zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Straftat ein.

Gegen die Einstellungsverfügung legten die Eltern des Kindes mit Schriftsätzen ihres Anwalts Bossi vom 3. und 8. Juni 1998 Beschwerde ein. Ein angeblicher rechtsextremer Hintergrund wurde dabei nicht erwähnt. Die Eltern beanstandeten die Ergebnisse der Obduktion und beantragten die Einholung eines weiteren rechtsmedizinischen Gutachtens zur Todesursache.

Die Beschwerde wurde durch Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft vom 30. Juni 1998 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Ermittlungsmöglichkeiten seien ausgeschöpft. Ein Drittverschulden werde ausgeschlossen. Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass die von den Eltern Verdächtigten zum Tatzeitpunkt strafunmündig gewesen seien.

Die Eltern machten von der Möglichkeit weiterer Rechtsbehelfe keinen Gebrauch.

Die eingangs zitierte Zivilklage der Eltern gegen die Stadt wurde im Übrigen im Oktober 1999 mit einem gerichtlichen Vergleich einvernehmlich erledigt.

Erst mit Schreiben vom 23./24. März 2000 wandten sich die Eltern an den Bundesinnenminister und das Sächsische Staatsministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie. Die Schreiben wurden dem Sächsischen Justizministerium am 3./5. Mai 2000 zugeleitet. Sie enthielten die darin erwähnten sogenannten "eidesstattlichen Versicherungen" nicht.

Das Justizministerium bat daraufhin mit Schreiben vom 10. Mai 2000 den Generalstaatsanwalt des Freistaates Sachsen um Bericht. Es forderte die Generalstaatsanwaltschaft auf, das Notwendige zu veranlassen, soweit sich aus den gleich lautenden Schreiben vom 23./24. März 2000 neue Ermittlungsansätze oder Anhaltspunkte für Straftaten ergeben sollten. Die in den Schreiben vom 23./24. März 2000 enthaltenen Vorwürfe, es sei gegen arzneimittel- und apothekenrechtliche Vorschriften verstoßen worden, wurden vom Staatsministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend und Familie überprüft.

Die von der Generalstaatsanwaltschaft veranlasste Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft Dresden betraf insgesamt 14 verschiedene Ermittlungsverfahren. Den verfahrensabschließenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft Dresden, insbesondere auch derjenigen im Todesermittlungsverfahren, trat die Generalstaatsanwaltschaft in vollem Umfang bei.

In der Folgezeit wurde der Bericht des Generalstaatsanwalts im Sächsischen Justizministerium geprüft. Kurz vor Abschluss der Überprüfung sandte das Sächsische Innenministerium mit Schreiben vom 8. August 2000 dem Staatsministerium der Justiz eine "Fallanalyse", die ihm vom Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e. V., Professor Dr. ChristianPfeiffer, übermittelt worden war. Beigefügt waren auch die schon in den Schreiben vom 23./24. März 2000 erwähnten sogenannten "eidesstattlichen Versicherungen". Daraufhin wurde die Generalstaatsanwaltschaft mit Schreiben vom 22. August 2000 um Prüfung gebeten, ob die Ermittlungen in dem Todesermittlungsverfahren wieder aufzunehmen seien.

Mit Verfügung vom 30. August 2000 wies die Generalstaatsanwaltschaft die Staatsanwaltschaft Dresden an, die Ermittlungen wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts und anderem wieder aufzunehmen.

Nachdem sich aus den sogenannten "eidesstattlichen Versicherungen", die der von Prof. Pfeiffer übersandten "Fallanalyse" beigefügt waren, Anhaltspunkte für ein Tötungsverbrechen ergaben, leitete die Staatsanwaltschaft Dresden gegen drei Beschuldigte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen Mordes ein. Am 26. September 2000 beantragte die Staatsanwaltschaft die richterliche Vernehmung von drei Personen, die nach ihrer vorläufigen Einschätzung als Hauptbelastungszeugen anzusehen waren.

In dem vom Amtsgericht Dresden auf den 16. Oktober 2000 festgesetzten Vernehmungstermin konnte nur ein Zeuge vernommen werden. Er bestätigte den in der sogenannten "eidesstattlichen Versicherung" geschilderten Sachverhalt. Die beiden anderen Zeugen waren unentschuldigt nicht erschienen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Dresden erließ das Amtsgericht Dresden gegen diese beiden Zeugen Vorführungsbefehle. Sie wurden am 21. November 2000 vollzogen. In ihrer anschließenden richterlichen Vernehmung bestätigten auch diese Zeugen ihre belastenden Angaben aus den sogenannten "eidesstattlichen Versicherungen".

Erst aufgrund dieser Angaben bejahte die Staatsanwaltschaft Dresden nunmehr einen dringenden Tatverdacht wegen gemeinschaftlichen Mordes. Sie beantragte gegen drei Beschuldigte Haftbefehle. Diese wurden am 22. November 2000 vom Amtsgericht Dresden erlassen.

Ein Beschuldigter wurde am 21. November 2000 in Sebnitz vorläufig festgenommen; die beiden anderen am 22. November 2000 in Braunschweig. Die Beschuldigten bestritten bei ihrer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter die Tat. Einer der Beschuldigten machte detaillierte Angaben über ein Alibi zum Tatzeitpunkt.

Die Staatsanwaltschaft Dresden veranlasste sofort eine Überprüfung des geltend gemachten Alibis und ordnete die Vernehmung weiterer sowie die nochmalige Vernehmung der bereits richterlich vernommenen Zeugen an. Bei diesen Ermittlungen hielt einer der richterlich vernommenen Hauptbelastungszeugen seine Angaben nicht mehr aufrecht. Außerdem bestätigte sich das von einem der Beschuldigten angegebene Alibi.

Noch in den Abendstunden des 26. November 2000 wurde von der Staatsanwaltschaft Dresden deshalb die Aufhebung der Haftbefehle gegen die drei Beschuldigten wegen Verdachts des gemeinschaftlichen Mordes beantragt und die sofortige Freilassung der drei Inhaftierten angeordnet. Am 27. November 2000 hob das Amtsgericht Dresden den Haftbefehl gegen die drei Beschuldigten förmlich auf. Im Laufe der weiteren Ermittlungen stellte sich dann heraus, dass ein Tatverdacht gegen die drei Beschuldigten nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte. Die Staatsanwaltschaft stellte deshalb am 13.12.00 das Verfahren gegen sie ein. Sie ermittelt weiter gegen unbekannt.

Vom Ermittlungsstab der Staatsanwaltschaft Dresden und der vom Polizeipräsidium Dresden gegründeten Sonderkommission wurden seit dem 23. November bis zum gestrigen Tage 230 Personen als Zeugen vernommen. Die Vernehmung von weiteren rund 50 Personen, die als Zeugen in Betracht kommen könnten, dauert derzeit noch an. Keiner der bereits vernommenen Zeugen, die sich am 13. 6. 97 in unmittelbarer Nähe der Stelle befanden, an der Joseph aus dem Wasser gezogen wurde, haben Beobachtungen gemacht, die zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür lieferten, dass körperlich auf den kleinen Jungen eingewirkt wurde, die einen Straftatverdacht begründen könnten.

Die bisherigen Ermittlungen haben auch keine Erkenntnisse für den zunächst behaupteten "rechtsextremen" Hintergrund des Geschehens erbracht. Von den Personen, die zum Teil wiederholt gegenüber den Eltern des Kindes unter der Überschrift "eidesstattliche Versicherung" Erklärungen unterschrieben hatten, hatten sechs Personen - auch die drei am 16. Oktober und am 21. November 2000 richterlich vernommenen Zeugen – die drei Beschuldigten namentlich benannt und Angaben über sogenannte "Rechte" gemacht, die sich zum Zeitpunkt des Ereignisses am 13. 6. 97 im Bad aufgehalten haben sollen und die mit dem Tod des Kindes in Verbindung gebracht wurden.

Alle Zeugen haben sich zwischenzeitlich von ihren ursprünglichen Angaben distanziert. Sie haben eingeräumt, dass sie die Unwahrheit gesagt haben.

Die Ermittlungen haben darüber hinaus ergeben, dass sich zwei der sechs Hauptbelastungszeugen nachweislich zum Zeitpunkt des Ereignisses überhaupt nicht im Schwimmbad aufgehalten haben. Alle Zeugen, die gegenüber den Eltern des Kindes sogenannte "eidesstattliche Versicherungen" abgegeben haben, haben von den Eltern nach der Abgabe ihrer sogenannten "eidesstattlichen Versicherungen" Geldbeträge in unterschiedlicher Höhe erhalten.

Die Staatsanwaltschaft Dresden hat zwischenzeitlich ein weiteres rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten bei einem rechtsmedizinischen Institut in Auftrag gegeben, das bisher noch nicht mit der Sache befasst war. Dieses Gutachten steht noch aus.

Am 29. November 2000 wurde von dem Verteidiger eines der drei Beschuldigten Anzeige gegen die am 16. Oktober 2000 und am 21. November 2000 richterlich vernommenen Zeugen und gegen die Mutter des verstorbenen Kindes erstattet.

Die Staatsanwaltschaft Dresden hat gegen die drei richterlich vernommenen Zeugen zwischenzeitlich ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen uneidlicher Falschaussage und gegen die Eltern des kleinen Joseph unter anderem wegen Verdachts der falschen Verdächtigung eingeleitet.

In dem Verfahren gegen die Eltern wurden am 30. November 2000 auf der Grundlage einer gerichtlichen Durchsuchungsanordnung die Wohn- und Geschäftsräume durchsucht. Das dabei sichergestellte und beschlagnahmte umfangreiche Material wurde am 7. Dezember 2000 im Beisein der nunmehr beschuldigten Eltern, deren Tochter und eines beauftragten Rechtsanwalts entsiegelt und gesichtet. Die Auswertung steht noch aus.

Weitere Ermittlungsverfahren wurden von der Staatsanwaltschaft Dresden eingeleitet im Zusammenhang mit dem Auftreten Rechtsextremer vor dem Grundstück der Eltern des verstorbenen Kindes und mit Blick auf die Eintragungen im Internet-Gästebuch der Stadt Sebnitz.

Den Hinweisen, dass Vertreter elektronischer Medien rechtsextremen Jugendlichen Geld für das Grölen ausländerfeindlicher Sprüche angeboten hätten, ging die Staatsanwaltschaft nach. Die Hinweise wurden nicht bestätigt.

Soweit zu dem, was wir bisher über den Sachverhalt und den Verfahrensgang sagen können.

Zu diesem Sachverhalt gehört allerdings auch die Rolle, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. und sein Leiter, Professor Pfeiffer, im "Fall Sebnitz" spielten. Niemand macht Herrn Pfeiffer zum alleinigen Sündenbock, wie er vor wenigen Tagen beklagte. Der Umstand, dass bei derartigen Ereignissen alsbald ein alleiniger verantwortlicher Sündenbock gesucht wird, ist ja gerade eines der augenscheinlichsten Probleme, das im "Fall Sebnitz" offenbar wurde. Weder die Presse, noch Herr Pfeiffer, noch die Familie des kleinen Joseph sind der alleinige Sündenbock. Schon gar nicht die Einwohner der Stadt Sebnitz oder gar die Ostdeutschen in ihrer Gesamtheit. Jeder mag selbst beurteilen, wer welchen Anteil an dem Scherbenhaufen hat, der sich als Ergebnis der zurückliegenden Ereignisse zwischenzeitlich vor uns auftürmt.

Aber Fragen muß sich Professor Pfeiffer schon stellen lassen - und er müßte sie sich wohl auch selbst stellen. Warum hat er in seinem Gutachten, von dem er nun sagt, es sei nicht seines, sondern das Gutachten eines Mitarbeiters, von "neuen beweiserheblichen eidesstattlichen Versicherungen gesprochen? Dies, obwohl er wissen sollte,, daß Kinder unter 16 Jahren keine Versicherungen abgegeben können, die die Beiweiserheblichkeit einer eidesstattlichen Versicherung haben? Warum hat er den sächsischen Behörden nicht die "Hunderte von Tonbandkassetten mit Interviews, geführt von der Mutter" weitergeleitet, die er in seinem Institut - laut seiner Mitteilung in der Süddeutschen Zeitung vom 25. 11. 2000 - gesichtet hat? Er hätte damit wesentlich zur Aufklärung der Sachverhalte beitragen können. Stattdessen findet Pfeiffer es im gleichen Zusammenhang "erschreckend", daß "keine untere Behörde die zuständigen Ministerien auf den Fall aufmerksam gemacht" habe? wenn er sich und sein Institut heute als eine Art Ombudsmann bezeichnet, ist er dann keine untere Behörde?

War Pfeiffer wirklich so naiv, sich darauf zu verlassen, dass sein Gutachten nicht über kurz oder lang in die Öffentlichkeit gelangen und seine Feststellungen zu "beweiserheblichen eidesstattlichen Versicherungen" verheerende Wirkungen auslösen könnten? Immerhin hatte er in seinem Schreiben an den Innenminister selbst auf bereits bestehende Kontakte zum Spiegel berichtet.

Er muß sich wohl auch fragen lassen, ob er nicht die eine oder andere Kamera, das eine oder andere Mikrophon besser ausgelassen hätte, nachdem der Fall bekannt wurde. Die Autorität seines wissenschaftlichen Rufes und seines Instituts hat seinen Äußerungen und Gutachten ein beachtliches Gewicht verliehen. Dieses Gewicht hat eine erhebliche Rolle gespielt, als Sebnitz in die Schlagzeilen geriet.

Die "TAZ" schrieb dazu gestern:

"Pfeiffer muss sich aber ankreiden lassen, dass er sich nur am Anfang vorsichtig zu der Nazi-Mord-Hypothese äußerte und dann vor laufenden Kameras seiner Eitelkeit erlag und dem Medientrend zum vorschnellen Urteil nicht widerstand."

Pfeiffer hat dem vorschnellen Urteil nicht nur nachgegeben. Er hat es aktiv befördert und ihm auch gleich die rechtfertigende Begründung geliefert. In der Süddeutschen Zeitung vom 25. 11. wird von ihm die folgende Interview-Antwort wiedergegeben:

"Wenn ein halb irakischer Junge in einer ostdeutschen Stadt getötet wird, muss man leider immer extrem gründlich sein, da haben die Warnlampen gefehlt, vielleicht waren sie sogar unterbewusst ausgeschaltet".

Diese Äußerung eines Wissenschaftlers, der vor wenigen Tagen zum Justizminister in Niedersachsen berufen wurde, ist ein Skandal.

Herr Pfeiffer unterstellt mit ihr, dass der kleine Josef getötet wurde. Zum zweiten bedient und bestätigt er damit in unerträglichem Maße das Klischee, derartiges könne eigentlich nur in Ostdeutschland vorkommen. Und drittens erweckt er den Eindruck, nur wenn ein "halb irakischer" Junge getötet werde, müsse man mit besonderer Sorgfalt ermitteln.

Für uns gilt selbstverständlich: Gleichgültig ob ein irakischer, ein deutscher oder ein türkischer Junge in irgendeinem Schwimmbad in Deutschland zu Tode kommt: immer muß besonders sorgfältig ermittelt werden und immer muß bei der Untersuchung der Ursachen extrem gründlich vorgegangen werden.

Herr Pfeiffer wird sich diese Fragen allerdings kaum stellen. aus Anlaß seiner Amtsübernahme erklärte er, er würde sich wieder genau so verhalten. Aus der Geschichte um den angeblich von Neonazis ertränkten Jungen hat er nach eigenen Bekundungen nichts dazu lernen müssen. Stattdessen bleibt er bei seiner Kritik an den sächsischen Ermittlungsbehörden.

Ob die verantwortlichen Ermittler 1997/98 gründlich genug waren, ist auch Gegenstand der jetzt laufenden Untersuchungen. Wir wissen es noch nicht. Nur Herr Pfeiffer wusste es bereits, als er sein Gutachten übersandte, in dem den Behörden "Desinteresse, Unprofessionalität und erhebliche Nachlässigkeit" vorgeworfen wurde. In seinem Interview verstieg er sich zu der Behauptung, die Mutter des kleinen Josef habe mit ihren ständigen Hinweisen auf eine mögliche Ermordung des Jungen bei der sächsischen Polizei keine Chance gehabt. Seine Begründung: Da hatte sich die Polizei schon festgelegt". Die Mutter hatte, so Pfeiffer, "auch deshalb keine Chance, weil die Zeugen fehlten. Es ist erst sehr gelungen, jemanden aufzutreiben, der ihre Version stützt" All dies sagt ein Wissenschafter, der später die Autorenschaft seines Gutachtens bestreitet, meint nichts dazu lernen zu müssen und , soweit wir feststellen können, nie den Versuch gemacht hat, die Berechtigung seiner Vorwürfe durch Gespräche mit den Verantwortlichen in der sächsischen Regierung oder der Polizei zu klären.

Der Tod eines kleinen Jungen durch Ertrinken ist immer ein tragisches Ereignis, ob in Sebnitz oder in der Partnerstadt Montabaur. Der "Fall Sebnitz", der uns in den zurückliegenden Wochen beschäftigt und auch erschüttert hat, ist darüber hinaus in beinahe jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Fall:

  • Zunächst der Verdacht einer ungeheuerlichen Straftat an einem kleinen Kind.
  • der Verdacht, dass die Straftat einen rechtsextremen Hintergrund hatte,
  • der Verdacht, dass eine Stadt von 10.000 Einwohnern angeblich wider besseren Wissens drei Jahre lang schweigt und 300 Menschen bei dieser ungeheuren Tat weggeschaut haben sollen,
  • eine Berichterstattung, die - in Teilen jedenfalls - aus dem Verdacht eine Tatsache macht,
  • eine katastrophale Rufschädigung für eine ganze Stadt, die für die vermeintliche Tat in Haftung genommen wird,
  • ein erschreckendes Aufleben längst überwunden geglaubter Klischees im Verhältnis Ost-West in Deutschland,
  • und dann eine bisher nicht gekanntes Maß an Selbstkritik in den deutschen Medien.

Die "Bild-Zeitung" erschien am 23. November mit den Schlagzeilen "Sebnitz. Neonazis ertränken Kind. Am hellichten Tag im Schwimmbad. Keiner half. Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen."

Die Schlagzeilen erschienen ohne jede Relativierung, ohne jedes sonst auch in der Boulevard-Presse übliche Fragezeichen. Sie besaßen, so der Dresdner Kommunikationswissenschaftler Professor Wolfgang Donsbach, "alle Elemente, die den Journalismus in solchen Situationen anspringen ließen". Und sie trafen bei vielen auf einen "fertigen Bezugsrahmen", auf ein Vorurteil, das mit dem Fall in besonders eindrucksvoller Weise offenbar wurde: Je östlicher man in Deutschland kommt, um so rechtsradikaler sind die Leute.

So unwiderstehlich war der Sog dieses Vorurteils, daß selbst die Süddeutsche Zeitung am 25. 11. mit der Schlagzeile erschien: "Ein Kind, ertränkt wie eine Katze". Und am 29. 11. die These verbreitete: In den alten Ländern bewegen sich die Neonazis am Rande der Gesellschaft und nicht in deren Mitte, sie bilden eine kriminelle Subkultur, aber keine massenhafte Jugendkultur. Die existiert im Osten, und daran würde es gar nichts ändern, wenn der Tod des kleinen Josef keinen politischen Hintergrund haben sollte". Perfider kann man die Sebnitzer nicht um die Chance einer Widerlegung des Vorurteils bringen.

Daß die NPD in den Landtagswahlen in Sachsen scheiterte, Neonazis in Gestalt der Republikaner aber schon in der zweiten Legislaturperiode im Landtag von Baden-Württemberg -einem der reichsten Länder Deutschlands - sitzen, ist dem Kommentator keine Erwähnung wert. Ihm kommt es, ebenso wie Pfeiffer, auf die Bestätigung des Vorurteils an.

Donsbach meint dazu: "Dieser Bezugsrahmen war sogar resistent gegen die Alltagserfahrung, dass - trotz der statistisch tatsächlich stärkeren rechtsextremen Tendenzen im Osten - wohl kaum Hunderte von Bürgern einen Mordfall decken."

Was in den Tagen nach der Veröffentlichung der "Bildzeitung" geschah, nennt der Kollege Donsbach ein "Lehrstück für Journalismus": Auch der mangelnden Fragezeichen wegen wurde in nahezu jedem deutschen Medium und in etlichen ausländischen Medien der Verdacht als Tatsache entgegengenommen und entsprechend kommentiert. Den Bürgern der Stadt Sebnitz wurde jede Unschuldsvermutung verweigert. Ganz Ostdeutschland kam in Verruf. Eine dänische Zeitung schrieb: "Das Böse hat eine Adresse in Ostdeutschland bekommen."

Dass der Ministerpräsident unter solchen Umständen nach Sebnitz fährt, um sich zu kümmern, sich zu erkundigen, um die Menschen um Mithilfe bei der Aufklärung des schrecklichen Verdachtes zu bitten und den Sebnitzern einen Teil der Last abzunehmen, die ihnen plötzlich auferlegt wurde, ist eine Selbstverständlichkeit. Und wenn ich von den "Sebnitzern" spreche, schließe ich die zu Unrecht Verdächtigten ebenso ein wie die Familie Kantelberg-Abdulla.

Was in diesen schwierigen Tagen in den Sebnitzern vorgegangen ist, kann niemand von uns ermessen. Aber wir können mit den Menschen in Sebnitz dankbar sein für ihren sensiblen und umsichtigen Oberbürgermeister Mike Ruckh. Er hat bis an die Grenzen seiner und seiner Frau Leistungskraft das Seine getan, um Niedergeschlagenheit und Resignation nicht zu groß werden zu lassen. Und, was mindestens genauso bedeutsam ist: Er hat nach der Wendung der Ereignisse verhindert, daß die Nachdenklichkeit in unangebrachte Häme- oder gar Triumpfgefühle umschlagen konnte.

Wie nachhaltig rufschädigend der Verlauf der Dinge für Sebnitz war, zeigt auch das Internet-Gästebuch der Stadt und im Gästebuch des Freistaates Sachsen aus jenen Tagen. Tausende haben sich dort eingetragen, viele Texte voller Haß und Ablehnung. So diese keineswegs untypischen Beispiele:

"Ich habe eigentlich gedacht, solche Tiere gibt es nur noch auf dem Balkan", schreibt dort jemand und meint die Menschen in Ostdeutschland. Er fährt fort: "Aber offenbar gehört Sachsen und der Rest der DDR auch schon zum Balkan".

Oder: "Passt mal auf, und das gilt nicht nur den Sebnitzern, sondern den meisten von euch Ostgoten: Ihr seid nicht Menschen zweiter Klasse, ihr seid überhaupt keine Menschen."

Richard Schröder hat diese Vorgänge mit der Feststellung kommentiert: "Im Osten haben wir eine erschreckend verbreitete Ausländerfeindlichkeit zu beklagen, im Westen kann man eine beachtliche Inländerfeindlichkeit ausmachen."

Es gab - zum Glück - auch freundliche Worte:

"Liebe Bayern, Sachsen, Rheinländer und Fischköpfe, lasst uns doch 10 Jahre nach unsrer gefeierten Wiedervereinigung nicht so'n Scheiß daherreden".

Und ein anderer:

"Die Freundlichkeit und Herzlichkeit der hier lebenden Menschen, die herrliche Landschaft sowie das Flair von Dresden führte dazu, dass ich hier nicht mehr wegziehen will. Umso mehr erschrecken mich die hasserfüllten, zum Teil sogar im Nazi-Jargon geführten, Kommentare einiger meiner Mit-Wessis."

Vor allem aber haben die Bürgerinnen und Bürger ihrer Partnerstadt Montabaur den Sebnitzern Mut gemacht: Zitat

Ich gehe davon aus, dass der Anteil der Menschen in Westdeutschland , die so positiv denken, genauso hoch ist wie der Anteil der Menschen in Ostdeutschland, der nichts, aber auch gar nichts mit Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Sinn haben.

Schließlich erleben wir zur Zeit ein erstaunliches Maß an Selbstkritik der deutschen Medien, auch derer, die allzuschnell ihr Urteil gefällt hatten. Ich bin dafür dankbar aber ich bin auch überrascht, dass das möglich ist. Presse-Schelte verbietet sich eigentlich ebenso wie Urteils-Schelte. Im Fall Sebnitz war es jedoch notwendig, die Vorverurteilung einer ganzen Stadt zu kritisieren und dagegen zu halten. Ich habe mich dabei um Differenzierung bemüht, denn es gab, wie wir alle wissen, etliche Journalisten, die mit vielen Fragezeichen berichtet und sich die Sache nicht leicht gemacht haben.

Dass die Medien selbst den Fall zum Anlass nehmen, um über unsere "Nachrichtenwelt" und ihre Gesetzmä&szluml;nderfeindlichkeit, die es, wie wir wissen, auch bei uns und auch in Sebnitz gibt. Niemand leugnet, dass es im Osten mehr ausländerfeindliche Straftaten und teilweise andere Erscheinungsformen des Hasses als in Westdeutschland gibt. Niemand darf aber auch übersehen, dass hier die Ursachen teilweise andere sind, und dass deshalb die Rezepte dagegen, nach denen wir suchen, auch andere sein müssen.

Eines jedoch dürfen wir nicht zulassen: Dass sich in Deutschland nur diejenigen als die besten Kämpfer gegen den Ausländerhass empfinden dürfen, die andere am schnellsten des Ausländerhasses bezichtigen und mit Fingern auf andere zeigen. Wir dürfen nicht zulassen dass, wie der Philosoph Odo Marquard


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